Rolls-Royce 102EX Fahrbericht: Der flüsternde Riese

Frankfurt, 2011

Wo ist der V12? Wo die Endrohre, der Anlasser, die Wasserpumpe, der Krümmer, der Kat, der Tank, die Zündspule, das Öl und vor allem das Benzin?

Auf der Suche nach der Zukunft im Phantom ohne Zylinder.

Man erinnert sich an den Golfplatz. Die kleine, rollende Selbstverständlichkeit, der fast stumme Diener mit Sitzbank und Halterung für zwei Bags ist seit Jahrzenten im Dienst, überall auf der Welt. Er saust über den Rasen, kennt nur zwei Richtungen: Vorwärts und Rückwärts. Nachts ist Fütterungszeit und am Morgen steht er mit seinen Kollegen in Reih und Glied bereit. Ein Elektrowagen, wie er im Buche steht.


Unser Elektrowagen wird in dieser Form mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit niemals auf einem Golfplatz zu sehen sein. Wenn überhaupt, dann auf einem Green in Pebble Beach, als Ausstellungsstück oder als Beleg für Future made by Rolls-Royce Motorcars.


Stepahn C. Schmidt ist Physiker. Auf seiner Karte steht "Manager Body Electronics" und er öffnet die Pforte zum elektrischen Himmel á la Rolls-Royce. Die Silhouette ist bekannt, der Phantom war schon zu Gast bei Exclusive-Life, auch seine Geschwister, oder besser die gesamte Familie. Man kennt sich, hat etliche Kilometer gemeinsam verbracht, miteinander geredet, die Großeltern getroffen über die Ahnengalerie geredet. Kurz, der 102EX ist zunächst ein echter Rolls-Royce nur eben mit einem Kunstherz und dem berühmte EX auf der Visitenkarte, das ihn als Besonderheit ausweist. Ein Rolls-Royce in besonderer Mission, ein Rolls-Royce in diplomatischen Diensten, ein Botschafter aus Goodwood.


Wenn man mit einem Physiker in einem Rolls-Royce mit Elektroantrieb unterwegs ist, muss man Fragen stellen und während man sich die Antwort anhört, fallen einem neue Fragen ein und dazwischen wird einem immer wieder bewusst, dass man diesen kurzen Ausflug in die Zukunft so schnell nicht wiederholen kann. Es sei denn, Rolls-Royce wird dieses Konzept in ein paar Jahren als Serienauto auf den Markt bringen. Natürlich kann Herr Schmidt diese Frage nicht beantworten. Der 102EX sei ein Experiment, die Technik betreffend und natürlich ein Stimmungsbarometer. Wie gehen die potenziellen Kunden, ob nun Neu- oder Stammkunden, mit dieser Idee um? Und weil kaum ein Autohersteller eine derart spitze Zielgruppe anvisiert, weil kaum eine Kundschaft derart treu, streng, traditionsbewusst und kritisch ist, wie die der Rolls-Royce-Besitzer, werden die Antworten nicht nur notiert, sondern auch sehr akkurat gedeutet. 


In der deutschen Sektion des Rolls-Royce Enthusiasts Club wurde das Thema im Rahmen einer kleinen Umfrage erkundet. Das Ergebnis überrascht nicht und lässt sich in einem relativ kurzen Absatz aufschreiben. 


Ein Rolls-Royce mit einem Elektromotor soll die gleichen Fahreigenschaften wie ein herkömmlicher Rolls-Royce bieten. Er darf gerne teurer sein, er sollte als Rolls-Royce erkennbar sein, die Reichweite soll nicht unter 350 Kilometer liegen, der Ladevorgang sollte entweder recht kurz sein oder man kann per Austausch eine geladene Batterie in Empfang nehmen. Auf keinen Fall darf die Mobilität leiden. Kurz: Egal welche Maschine unter dem Blech arbeitet, sie muss einen echten Rolls-Royce antreiben.


Und wie nah ist der 102EX an den Vorstellungen der Kundschaft? Die ersten Minuten vor der Berührung des immer noch so genannten Gaspedals gehören Herrn Schmidt. Wenn man den Sitz verstellt, die Seitenscheiben bewegt, das Licht einschaltet oder irgendetwas per Motor bewegt, werden dem Energiespeicher Kräfte entzogen, die Reichweite des Autos wird reduziert, Nachhaltigkeit ist gefragt. Die Konstruktion als erzieherische Maßnahme. Wie viele Kilometer kostet eine Minute Sitzheizung, ein Lied im Radio oder eine halbe Stunde bei eingeschaltetem Fahrlicht? In Zukunft wird man bewusster fahren. 


Der Schalter am Lenkrad ist immer noch für Vorwärts, Rückwärts und Neutral zuständig. Das Rundinstrument rechts zeigt auf der linken Seite den Energievorrat in Prozent an, die elektronische Feststellbremse wird gelöst, das Pedal leicht nach unten gedrückt, der Rolls-Royce rollt los. Natürlich ohne nennenswerte Geräusche, natürlich ohne Aufsehen. Die Spirit of Ecstasy weiter vorn erinnert an René Jules Lalique. Das Tor zur Ausfahrt aus dem Messegelände öffnet sich, man aktiviert den Blinker und denkt über die Folgen nach, die Erziehung hat begonnen. 


Ein Stück Autobahn, ein Stück Beschleunigung ohne 12 Zylinder aber mit Kraft und Energie. Der EX mag ein besonderes Auto sein, man merkt es kaum. Eine Frage an Herrn Schmidt:"Weshalb der Phantom als Heimat für den neuen Antrieb, weshalb nicht der Ghost?" Die Antwort:"Der Phantom bietet aufgrund seiner Rahmen-Konstruktion die bessere Basis." Ein paar Meter weiter die Information, dass der EX auf seiner Reise um den Globus sehr viele Menschen getroffen hat. Das Feedback sei sehr positiv, die Erwartungen der RREC-Mitglieder decke sich mit den Erfahrungen der Tour. 


Wieder zurück auf dem Messegelände, anhalten, Lenkradschalter auf P, Feststellbremse, fertig. Hinter stehen drei Mercedes-Maybach, als wir aussteigen, entfernen sie sich so leise wie möglich. Wer jetzt Vollgas gibt, hat nichts verstanden.

Text: Ralf Bernert

Fotos: Ralf Bernert

Skizze: Rolls-Royce Motorcars



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