Fahrbericht Bentley Continental GT Speed – Ausflug ins Nichts
Sizilien, 2021
Auf Sizilien gibt es den Ätna, jede Menge Olivenhaine, viele eindrucksvolle Dörfer und es gibt Comiso, das Nichts im Nirgendwo. Der perfekte Ort für eine schnelle Stadtpatrouille.
Im Cabrio quer über Europas größte Insel. Den Ätna im Blick, die Landschaft überall. Die Sonne grillt den Planeten und wir sitzen inmitten einer kleinen Rinderherde. Bestens verarbeitet, das Leder für die Hände eine Wohltat, Kontrastnähte für´s Auge. Die Finger wollen am liebsten ständig irgendwelche Knöpfe oder Walzen bewegen. Alles schimmert, blinkt und wirkt wie in einem Raumschiff vom Planeten De Luxe. Der beste aller Hebel bewegt das Verdeck. Rauf und wieder runter. Bis 50 km/h schnell dürfen wir rollen, das Dach in der Größe eines Squash-Feldes entriegelt sich selbst, hebt sich huldvoll über unseren Köpfen hinweg, gleichzeitig öffnet sich hinter uns eine Klappe, das Stoffdach faltet sich, bis es in die Öffnung passt und verschwindet lautlos. Der Deckel schließt sich wieder und der sizilianische Spätsommer kümmert sich noch wirkungsvoller um uns.
Rund einhundert Kilometer erlebst Du die Wucht des W12, der aus hoch-oktanigem Superbenzin den letzten Rest an Energie herauskitzelt und, soweit es ein Verbrennungsmotor kann, an die Räder abgibt. Er strebt nach vorn, wann immer es der Gasfuß diktiert. Artig, prompt und nachhaltig. Und weil das Cabriolet, einer uralten Tradition folgend, den Genuss des Gleitens und Schwebens zu einer Art Grundnahrungsmittel erklärt und der GT Speed, trotz aller Kräfte, seine sehr entspannte Seite zeigend, unterwegs ist sitzt der Mensch auf bequemsten Gestühl, schaut hinaus, inhaliert die Düfte sehr alter und potenter Olivenbäume und hofft, den berühmtesten Bewohner Siziliens zu sehen, den Ätna. Uns bleibt er verborgen, aber er ist da draussen, irgendwo.
Gute zwei Stunden, geschätzt einhundert Kurven und Geraden später steigst du aus und überlegst, woran das wohl liegen mag, das dieses Gefühl der Entspannung und Entschleunigung so selbstverständlich in der Luft liegt. Die Sitze plus Leder, Keder, Massage, Kühlung. Plus ein Fahrwerk, dass die Unzulänglichkeiten des Straßenbelages so ehrgeizig ausgleicht, wie ein sehr guter Souffleur die Text schwäche eines weniger guten Darstellers auf der Bühne. Er gleitet halt, schwebt, kümmert sich um jede Form der Unterhaltung mittels einer großartigen Soundanlage plus einer mittelgroßen Unternehmung, die im Inneren des Monitors ihre Büros und Präsentationsflächen betreibt. Navigation, Musik, Kommunikation und allerlei Einstellungen am Wagen lassen sich per Fingerübung vornehmen.
Es folgt das Nichts. Das Ende. Die Ödnis und der Staub. Und vorher ein Tor, als Barriere zum Nichts. Bewacht und beobachtet. Strenge Blicke, uniformierte Menschen und der Hauch des Verfalls. Man steht davor, will, aus purem Selbstschutz, das Verdeck über dem Kopf spüren und rollt dann doch oben ohne hinein. Comiso empfängt uns. Kühl, lebendig und doch dem Ende näher als dem Beginn. Staub frisst Asphalt, Wind schleift Mauern, Pflanzengrün erobert Mauergrau und die Lust auf einen Stadtrundgang wächst mit jedem Meter, den das Cabrio auf dem Weg zu seinem Parkplatz zurück legt. Eine Halle aus Wellblech, die natürliche Behausung der meisten Flugzeuge, ist unser Ziel. Vorerst. Comiso wartet.
Zwanzig Jahre, mindestens, verlassen. Einst eine kleine Stadt, mit Schule, Kirche, Einfamilien- und Reihenhäusern, Freibad und Kino, plus all´ den militärischen Bauwerken, die eine Luftwaffeneinheit der US-Airforce so braucht. Voller Leben einst, jetzt ein hidden place, eine Kulisse, in der man sich das Ende der Zivilisation vorstellen kann. The Walking Dead läßt grüßen. Oder andere Endzeit-Ideen. Und genau hier soll uns der neue GT Speed mit festem Dach über den Köpfen erzählen, was ihn bewegt, was ihn begeistert, langweilt oder neugierig macht.
Als Spaziergang fängt es an. Gassi gehen im Revier. Um den Block. Im Komfort-Modus, der Motor schickt ein leises, fast schüchternes Dröhnen in die Stadt. Eine Patrouille durch eine Geisterstadt, in der hinter jeder Fensterscheibe ein Gesicht erscheint. Weil wir x Filme und Serien zu diesem Thema gesehen haben. Und jetzt mitten drin, in diesem Nichts aus Mauern, Straßen, Türen, Fenstern und Laternen, denen schon vor vielen Jahren das Licht ausging. Über die Hauptstraße, vorbei an Geschäften, Stores, zweimal links abbiegen und mitten hinein in den Militär-Bereich. Hallen aus Blech und Stahl, verrostet, offene Tore und drinnen dann die Zeichen des Krieges. Raketen, atomar bestückt. Gerätschaften, an denen die Waffen in Flugzeuge gehievt wurden. Voller Leben einst. Und heute? Wieder Leben. Nur anders, oberflächlich betrachtet ohne Ordnung, ohne Vorschriften, ohne Genehmigung. Pflanzen und Tiere als Eroberer. Überall.
Rund zwei. Der Bentley darf los. Speed-Patrouille in Comiso
Sport-Modus, den Gurt enger schnallen. Gas, Lenkung, das ganze Fahrwerk ist zwei Stufen direkter, schneller, härter. Der Wagen hat in einer Sekunde etliche Kilo Masse verloren. Scheinbar, spürbar. Mit über 70 durch die Stadt, eine Staubfahne wie das Cape eines Superhelden hinter sich her ziehend. Jede Seitenstraße eine Versuchung, der Brite stürzt sich in die City, die Traktionskontrolle kämpft mit rutschigem Staub auf der Straße. Und obsiegt. Drehmoment wird optimal verteilt, jedes Rad, dass nur einen Funken Traktion nachweisen kann, wird bedient. Das Ergebnis: Das Coupé sprintet durch die Straßen, rennt auf allen Vieren spürbar druckvoll nach vorn. 659 PS werden nahezu verlustfrei auf die Straße gebracht. In einer Nebenstraße, ein Freibad plus Vorplatz. Burnout ohne Kopfschütteln. Ein paar Kaninchen, ein paar Vögel werden verjagt, Staub liegt meterhoch in der Luft. Der GT Speed spielt, die Tour geht weiter. Durch Löcher im Zaun zur Militäranlage.
Eine Halle. Industrie-Flair. Stahlwerk, Fertigung, Montagehalle? Hier wurden einst Marschflugkörper plus deren atomare Ladung montiert. Jetzt versprüht der Bentley seine Aura. Kraftvoll, ohne Abschreckung, als Botschafter Jetzt im Nichts der Vergangenheit. Ein paar Sekunden Ruhe, die Bremsen duften nach Arbeit, dem Schweiss der Entschleunigung.
Wieder raus, neue Runde. Diesmal mit dem Mut der Erfahrung. Super Sport. Den britischen Edelsportler nahezu von der Kette lassen. Topspeed-Patrouille.
Wir füllen die Stadt mit Leben. Der stärkste Defibrillator auf Rädern. Er brüllt seine Lebenskräfte in jede Ritze, jede Fuge, jedes Loch im Asphalt und in jede Türspalte. An der nächsten Ampel links, 90 Grad. Das Heck will schneller als der Rest, es vibriert, es zuckt und es kommt raus, lächelt dich im Aussenspiegel an und du lenkst dagegen, der Gasfuß als Korrektor. Wieder im Lot, die Seitenstraße entlang, diesmal Reihenhäuser. Offiziere wohnten hier, mit Frau Kind und Golden Retriever namens Ben. Ein Basketball-Korb hängt dort, ohne Netz. Es winkt uns zu und der Bentley stürzt sich auf eine Shopping-Mall, Vollbremsung mit 80 km/h. Ein paar Utensilien auf den Rücksitzen schauen vorn vorbei, weiter mit dem rasenden Stadtrundgang. Immer wieder abbiegen, eine lange, offene Rechtskurve. Der Zweitürer bleibt so lässig in der Spur wie ein Sportwagen es tun sollte. 2,3 Tonnen Blech, Leder, Aluminium und Glas plus Kilometer lange Kabel verwischen ihre Masse, lassen den Anschein zu, dass wir in einem 1,5-Tonner sitzen, der gerade die Mulsanne erreicht und seine ganze Wucht auf den Bodenbelag presst. 335 schafften wir nicht. Speed-Limit.
Das Rolltor öffnet sich, der GT Speed rollt hinaus. Wie ein Rennpferd nach drei wilden Runden. Der Jockey ist sehr zufrieden, weil er diesen Bentley als Gentleman mit Stoffdach in aller Ruhe geniessen konnte und das Coupé ihn mit dem Punch eines Profilboxers durch die Manage getrieben hat. Beides hat seinen Reiz, beides kann der stärkste aller Bentley so souverän wie es eben ein Bentley kann und falls wir in diesem Nichts mit dem Namen Comiso irgendein Lebewesen erschreckt und genervt haben, schreiben wir in aller Form: sorry.
Die technischen Daten des Bentley GT Speed:
Motor: W12 Biturbo
Leistung: 485 kW / 659 PS
Drehmoment: 900 Nm
0-100 km/h: 3,6 s
Top Speed: 335 km/h
Reichweite: 590 km
Preis um 230.000,00 Euro
Text: Ralf Bernert
Fotos: Bentley Motors